Riesenrad-Ausblicke

Da drehte es sich nun, Uelzens derzeitiges Wahrzeichen: Das Riesenrad. Es hat das sonstige Wahrzeichen - den Turm von St. Marien - in den Schatten gestellt. In einen drehenden Schatten. Sonne vorausgesetzt.

Räder zählen zu unseren größten Erfindungen, zu den Riesenerfindungen mit riesigen Folgen. Ein Blick auf die Straßen mit unseren Ersatz-Blechhäusern auf vier Rädern namens Auto genügt: Räder rollen für inzwischen alle Welt. Unsere anderen Erfindungen und Entdeckungen - Erzeugung und Transport von Feuer, Schießpulver, die Rundheit der Erde und die Antibabypille etwa - verblassen vor der Beherrschung der Welt durch das Rad. 9 Kein Flugzeug kommt ohne seine Räder aus, keine (mechanische) Uhr. Außer in Gottes Hand steht unsere Zeit im Zeichen des sich drehenden Rades.

Und jetzt gar ein Riesenrad. Was lässt uns das funktionelle Rad zu einem solchen Lustobjekt machen, zu einem Riesenlustobjekt? Der Blick aus dem Riesenrad über Uelzen und auf Uelzen herab macht's. Da wird die geliebte Frau, die einem das Ticket für eine Alleinfahrt schenkte, um von unten fotografieren zu können, derart winzig, wie man(n) sie immer schon haben wollte, um sie überall hin mitnehmen zu können.

In der Aktentasche. Wie Frau Pepperpott im Bilderbuch. Und umgekehrt: Die wahrlich schwierige, nein, unheimlich zickige Tante Ulrike (neben der geliebten Frau stehend) wird auch erleichternd winzig und unbedeutend. So ein Riesenrad macht den Blick wahrlich frei und erlaubt, dass manche Unbill da unten sich verkleinert. Leider nur für die Dauer der Riesenraddrehung bei einfacher Fahrt.

Mir fallen die Uelzener ein, die solch Riesenrad nicht nötig haben, weil sie solche Blicke über Uelzen und auf Uelzen herab immer haben (können). Ich denke an die Pröpste und Pastoren, an die Organisten und Küster und Raumpflegerinnen von St. Marien und anderen Kirchen. Sie haben den Schlüssel für den Turm und damit den Weitblick und Blick herab auf Uelzen.

Ein Blick, der das Wichtige ebenso deutlich werden lässt wie das Unwichtige. Unvorstellbar, was unser scheidender Propst Hube für viele Stunden auf seinem Marienturm verbracht haben dürfte, um in Ruhe zu meditieren.

Vorstellbar, dass unser Neuer im Kreis, Propst von Nordheim, auch deshalb dies Amt annahm, weil er nun diese Riesenradblicke genießen kann - nur ohne jeden Schwindel, ohne Ticketkosten und Zeitbegrenzung.

Solche Glücklichen verleben allerdings nicht deshalb so viel Zeit auf ihren Türmen, um über den Dingen zu stehen oder gar Hierarchie- oder Fluchtgefühlen genüsslich nachzuspüren. Vielmehr weil sie dann Gott näher sind. So dachten es sich die Turmbaumeister und ihre Auftraggeber.

Kirchturmblicke sind anders, Sie sind wahrer und Wahres ist bekanntlich ewig. Deshalb bleiben die Kirchtürme was sie sind: Die eigentlichen WahrZeichen.

 

05.September 2000